Partizipative Stadtentwicklung
Genauso wie die Erfahrungen, die Menschen in der Stadt durch Erlebnisse machen. Letztendlich geht es immer um die Lebendigkeit — den Mensch in der Stadt.
Unser Studio setzt sich seit langem mit Stadtentwicklungsfragen auseinander und hat bereits einige Projekte initiiert und begleitet. Diese zeigen wie Gestaltung transformativ auf Gesellschaft einwirken kann (weitere Einblicke hierzu finden sich in unserem Extrablatt Transformation Design) und Möglichkeitsräume oder Orte der Partizipation eröffnen. Denn Design umfasst nicht nur visuelle Prozesse, sondern setzt eine intensive Konzept- oder Prozessgestaltung voraus. Wie Stadtentwicklung mittels der Werkzeuge aus dem Design gedacht werden kann und welche Beteiligungsformen im öffentlichen Raum wie wirken können, stellen wir hier beispielhaft vor.
In dem Projekt EIN LADEN_ experimentierten wir 2012 prozessoffen im partizipativen Format zu Stadtentwicklungsfragen. Dafür nutzten wir ein leer stehendes Ladenlokal in der Braunschweiger Friedrich-Wilhelm-Straße als Ort der Begegnung. Passant:innen und interessierte Braunschweiger:innen waren dazu eingeladen sich mit ihrer Stadt auseinanderzusetzen und sich über diese auszutauschen. Zwischen Puff und Post entstanden gemeinsam mit Außenstehenden Ideen für das Viertel. Einen elementaren Teil des Projektes bildete daher der lebhafte Dialog. Der EIN LADEN_ diente somit als Kommunikationsort und kreativer Raum, der Partizipation an stadtgestalterischen Fragen ermöglichte. Quartiersangehörige wurden als Expert:innen für ihre Stadt ernst genommen, ihre Bedürfnisse erfasst, diese ausgearbeitet und weitergetragen.
Das Projekt wurde prozessoffen gestaltet, um Raum für Beteiligung zu schaffen. Als Designerinnen machten wir die in den EIN LADEN_ getragenen Ideen, Wünsche und Bedürfnisse sichtbar, visualisierten und gestalteten die Prozesse, schufen Zusammenhänge und entwickelten aus dem Input neuen Output, um den Austausch in Gang zu halten, neue Wege zu eröffnen, Neugierde zu schaffen, Erkenntnisse zu gewinnen und zur Interaktion aufzufordern. So generierte sich immer wieder neuer Input und der Gedanke des Open-Source und der kollektiven Intelligenz wurde erlebbar sowie neue Methoden der partizipativen Stadtentwicklung geschaffen.
Das Magazin ›Raumprojektion — Raumproduktion‹ hat den Prozess und Diskurs sowie die daraus entwickelten Ergebnisse dokumentiert.
Das Projekt wurde 2013 für den aed Neuland Award nominiert und mit dem IF Concept Design Award ausgezeichnet.
Beim Tag der offenen Altstadt konzipierte unser Studio 2014 eine Entdeckertour und eine dazugehörige Kampagne, die den Einzelhandel mit den historisch, kulturellen und städtebaulichen Qualitäten des Quartiers und Gamificationelementen verband. Das Konzept der Tour beruhte also auf der Verquickung von Handel, Erlebnis und geschichtlichen Bezügen der Altstadt. Eine, und auch gleichermaßen die wichtigste, Herausforderung im Projekt bestand darin, die Hemmschwelle bzw. Türschwelle der Menschen in die Inhabergeführten Läden zu überwinden. Dabei waren die Gamificationelemente zentrales und zielführendes Element. Geschäftsbetreibende wurden zu Tipp- und Rätselgeber:innen und der barrierearme Dialog wurde zum nützlichen Spielelement.
»Eine wirkliche Entdeckerreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern darin, altes mit neuen Augen zu sehen!« Marcel Proust
Hinter unscheinbaren Fassaden und vorher nicht wahrgenommenen Orten stecken immer Geschichten, die erzählt werden wollen. So begleitete die Aktion die Besuchenden, ausgestattet mit Stadtplänen und Rätselfragen auf ihrer selbstgeführten Entdeckertour mit dem Slogan ›Wenn Orte ihre Geschichten erzählen könnten …‹. Der zentrale Marktplatz im ältesten Stadtquartier Braunschweigs wurde zur Anlaufstelle, von der aus die Besuchenden Rätsel für Rätsel die Altstadt mit ihrer Historie und den architektonischen Besonderheiten erkunden und (neu) kennenlernen konnten. Alltägliche Orte aus neuen Perspektiven zu sehen wirkt identitätsstiftend. An diese heranzuführen, um sie sich wieder neu anzueignen, ist ein relevantes Werkzeug in Hinblick auf die derzeitigen Entwicklung der Innenstädte. Ebenso die Förderung und Kontaktaufnahme unter den Menschen, zwischen Besuchenden, Anwohnenden sowie Geschäftsbetreibenden, kann ungenutzte Potenziale freisetzen und zu einer neuen Belebung und Identifikation führen.
Beim Projekt Mission Löwenstadt wurde unser Studio 2022 mit der Konzeption und Gestaltung einer Progressive Web App (PWA) beauftragt, die der Problematik der sich Postcorona leerenden Innenstädte entgegenwirkten sollte. Neben dem Reiz der visuellen Aufgabenstellung (ein Blick in das Projekt ist hier zu finden) interessierte uns vor allem auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tendenzen in Bezug auf die Wahrnehmung des öffentlichen Raumes. Welche Reize aus unserer Umwelt erreichen Menschen in ihrer alltäglichen Routine, die geprägt durch eine allgegenwärtige Informationsflut eher in sich zurückgezogen ihre Wege erledigen.
Wir leben in einer rational deklarierten Welt, durch die wir ängstlich und gestresst von Termin zu Termin hetzen. Zwischen Message und Update, durch unendlich scrollbaren Content verschiedener Medien, die gleichzeitig um Aufmerksamkeit buhlen, bleibt uns kaum Zeit zum Innehalten und um unseren Gefühlen nachzugehen. Wir sehnen uns danach etwas zu empfinden, sei es Freude, Ehrfurcht, Überraschung oder Erheiterung. Wir wünschen uns etwas Verzauberung in unserer durchgeplanten Alltagswelt. Zum Teil hängt dies mit dem tristen Schicksal des Erwachsenwerdens zusammen: Mit der Zeit verlieren wir unseren Sinn für das kindliche Staunen und die Welt wirkt weniger magisch. Zum anderen ist da der Wunsch nach einem dringend notwendigen Gegenpol zu den Krisen-Zeiten, in denen wir leben. Dies weist auch der Global-Trendreport von Wunderman-Thompson aus 2023 auf, der auf Grundlage einer Studie ihrer Forschungsberatung SONARTM und 20 ausführlichen Interviews mit Expert:innen und Vordenker:innen (aus den Bereichen Wissenschaft und Technologie, Psychologie, Neurowissenschaften sowie Markenstrategie und Marketing) aus der ganzen Welt, entstanden ist.
Als das Braunschweiger Stadtmarketing mit der Fragestellung auf uns zukam, wie man mittels einer PWA von der Innenstadt Braunschweigs wieder verzaubert werden könnte, kamen uns sogleich die vielen Geschichten zwischen und hinter den Fassaden des Stadtkerns (und somit der Innenstadt) in den Sinn. Hier liegt jede Menge Zauber verborgen und was eignet sich besser als eine digitale Anwendung, diesen sichtbar machen kann. Gleichzeitig sorgen viele Gastronomen und Inhabergeführte Läden mit reichlich Leidenschaft für eine lebendige Stadt mit Aufenthaltsqualität und Entdeckungsmöglichkeiten. Die große Fragestellung war somit, was dazu einladen könnte Innezuhalten. Was konnte entwickelt werden, das genug Neugierde erzeugt und mit anderen bereits vorhanden Produkten konkurrieren bzw. das Angebot erweitern kann?
Ob betäubt durch pandemische Isolation, ausgebrannt durch die Grind-Kultur oder schockiert durch die Schrecken des 21. Jahrhunderts in Politik, Krieg und Klimakrise, die Menschen dieser Zeit verspüren ein Gefühl der Abwesenheit, das sich nur schwer definieren lässt. Um sich abzuheben kann ein Ziel sein, dieses langjährige Unwohlsein aufzurütteln, indem das Aufregende, das Erhabene, das Ehrfurcht gebietende und/oder das Magische zelebriert wird. Grundsätzlich vertritt unser Studio die Ansicht, dass mutig zu agieren (in Bezug auf das Auslösen von Gefühlen) oftmals ein Gewinn ist. Nicht selten treffen wir dabei auf die Ängste und Sorgen unserer Kund:innen. Denn beim Tangieren von Gefühlen können ja durchaus auch negative erzeugt werden, so das Argument. Schaut man sich aber um, kann man z. B. bei den großen Fashion- und Produktmarken den Erfolg durch das Schaffen gefühlsbetonter Erlebnisse durch mystische Flagship- und ausgefallene Pop-up-Stores, skurrile virtuelle Welten oder aufsehenerregende Kunstinterventionen im Stadtraum sehen. Und auch Kampagnen wie ›Legends never die‹ von Levis oder die ironischen Werbevideos der BVG setzen provokant und erfolgreich auf vermeintliche Tabu- oder gefühlsstarke Themen, um Aufmerksamkeit und Emotionen zu erzeugen. Die Alternative ist, weniger auffällig zu erscheinen und damit auch weniger Angriffsfläche zu schaffen. An manchen Stellen mag dies wichtig sein (und wird dann von uns auch so vertreten), an anderen birgt es aber zugleich das Risiko in der breiten Masse (und großen Konkurrenz all derer die um Aufmerksamkeit buhlen) unterzugehen und damit Chancen zu verpassen.
Insbesondere Storytelling und Gamification eignen sich, um Identität zu spüren und sich verbunden zu fühlen. Neugierde erzeugt die intrinsische Motivation sich intensiver mit einer Sache auseinanderzusetzen, Entdeckerfreude bestärkt die innere Gefühlswelt mit positiven Vibes ebenso wie kleine Erfolge mit einer wohlverdiente Belohnung am Ende.
Im Zeitalter der Verzauberung geht es letztendlich um die volle Gefühlswelt. Dafür reicht es nicht mehr aus, nur AR-Elemente, wie in der frühen Anwendung von Pokemon Go, einzusammeln. Auch diese App hat sich weiterentwickelt und Storytelling und Mission in die Weiterentwicklung eingebunden. Torquil McIntosh und Simon Mitchell zufolge, Cofounders des globalen Design Studios Sybarite, »suchen die Kunden nach einem Gefühl der Entdeckung und der Flucht aus dem Alltag und fühlen sich daher zu Räumen hingezogen, die sie in ein Abenteuer entführen«. In einer Zeit, in der Fake News und globale Krisen allgegenwärtig sind, nutzen die Menschen den Surrealismus, um sich vom Alltäglichen zu befreien und um Spaß und Schönheit zu finden, im Absurden oder im Alltäglichen.
Mission Löwenstadt versucht diesen Spagat – zwischen Gamification, Erlebnis und Storytelling, Realraum und virtuellem Raum, in einer Großstadt, die sich wie eine Kleinstadt anfühlt, in der Skeptiker:innen auf fantasievolle Macher:innen treffen, konservative Perspektiven auf bereichernde Utopien – für ein zukunftsfähiges und vor allem identitätsstiftendes Produkt. Let‘s play! (Beta Version)